Pflegende Angehörige im Bereich der Pädiatrie- Fakten und ein Erfahrungsbericht

Zahlen, Fakten, Thesen

Die eigenen Familien sind die Ressourcen für Pflege und Betreuung von kranken Kindern. In Deutschland sind ca. 75000 Kinder unter 15 Jahren pflegebedürftig nach SGB XI und etwa 130000 Kinder schwerbehindert nach Definition des SGB IX. Die vielfältigen Ursachen für Pflegebedürftigkeit bei Kindern entstehen durch schwere chronische Erkrankungen, angeborene oder erworbene Behinderungen mit oft hoher Komplexität z.B. syndromale Erkrankungen die ein „durch das gemeinsame Auftreten bestimmter charakteristischer Symptome gekennzeichnetes Krankheitsbild“ (Dudenredaktion, 2019) zeigen.

Durch den immensen Fortschritt in der Medizin ist die Überlebensrate bei Frühgeborenen gestiegen und auch das Überlegen mit schweren Fehlbildungen oder chronischen Erkrankungen hat sich verbessert (Bücker, 2008). Dadurch steigt aber auch die Zahl pflegebedürftiger Kinder und Jugendlicher, die zum Teil mit hohen Pflegeaufwand und medizinischer apparativer Therapie auch zuhause versorgt werden. In diesem Fall sind es oft die pflegerisch nicht ausgebildeten Eltern bzw. Mütter (87%) (Kofahl et al., 2017), die teilweise mit Hilfe ambulanter Kinderintensivpflegedienste die 24h Pflege ihrer Kinder übernehmen. Die meisten Eltern werden schon während des Klinikaufenthaltes geschult und angeleitet, bleiben jedoch Laienpflegende, die besonders auf die Bedürfnisse ihres Kindes angelernt werden.

Für die Familie bedeutet das neben der emotionalen Belastung eines chronisch kranken Kindes auch eine große auch finanzielle Belastung. In dieser Situation sind Pflegekräfte in ihrer beratenden Funktion gefragt, auch was Heilmittelversorgung und Rehabilitationsmöglichkeiten betrifft. Durch die Verteilung der Unterstützungsmöglichkeiten auf verschiedene Sozialgesetzbücher (SGB VIII – Kinder und Jugendhilfe, SGB IX Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen, SGB XII Sozialhilfe und ggf. SGB VI Gesetzliche Rentenversicherung) macht es auch dem medizinischen Personal nicht einfach, passende Lösungen schnell zu finden und zu organisieren (Kofahl et al., 2017).

Um diesem Bedarf zu begegnen hat der DBfK die Empfehlung der WHO von 1999 zur Etablierung einer „Family Health Nurse“ aufgenommen und in Zusammenarbeit mit der Universität Witten/Herdecke eine Weiterbildung „Familiengesundheit für Pflegende und Hebammen im Bereich Prävention und Gesundheitsförderung“ entwickelt und implementiert. Mit Hilfe der Weiterbildungen sollen Pflegekräfte und Hebammen in der Lage sein, die Familien mit dem erkrankten Kind umfassend zu unterstützten und begleiten (DBfK, 2009).

https://www.dbfk.de/de/themen/Familiengesundheitspflege.php

Insgesamt besteht aber noch Handlungsbedarf im Ausbau der Unterstützung der Familien zuhause und auch während des Klinikaufenthaltes.

Wir haben mit einer Mutter gesprochen die nun schon im zehnten Jahr als pflegende Angehörige ist. Was die vordringlichsten Belastungen (für sie! – andere Angehörige empfinden durchaus unterschiedliche Belastungen) sind und was sie sich von Politik und Gesundheitswesen wünscht könnt ihr hier lesen:

Was bedeutet es für dich und eure Familie pflegende Angehörige zu sein?

Hauptsächlich ist es eine finanzielle Belastung, die sich aber durch den Job meines Mannes aktuell in Grenzen hält. Was ich aber am belastendsten empfinde ist das permanente Mit- und Vorausdenken. Alles was wir machen wollen muss geplant werden. Man kann sich nie einfach mal hinsetzen und los fahren, es braucht immer mindestens einmal mehr (wenn nicht gar öfter) Mitgedacht. Kann man da mit dem Rollstuhl rein? Gibt es Möglichkeiten sie pflegerisch zu versorgen? Ist das Ferienhaus barrierefrei? Jede Barriere bedeutet für mein Kind eine massive Einschränkung in ihrer Selbstbestimmung. Benötigen wir beim Bahn fahren die Mobilitätshilfe? Wenn ja müssen wir sie im Vorhinein buchen. Gar nicht zu reden von solchen für uns banalen Dingen wie was gibt es zu Essen und habe ich ihr Besteck etc. dabei?

Es geht einfach ein großes Stück Spontanität verloren die durch gute, durchdachte Planung ersetzt werden muss. Man gewöhnt sich daran und wir sind es mittlerweile gewohnt, aber wir sind halt permanent in der Verantwortung für unser Kind und ihre Bedürfnisse mitzudenken. Sie würde sonst einfach vergessen werden und ihre Rechte würden unter den Tisch fallen.

Wie sehr belastet euch die Situation finanziell?

Durch den Wegfall eines festen Gehaltes sind wir in einer anderen finanziellen Situation als wir ohne den „PflegeJob“ wären. Es geht uns gut und wir können vorsorgen, aber das ist halt auch Luxus.

Hätte mein Mann keinen gut bezahlten Job oder würde er plötzlich ausfallen sähen solche Dinge wie den Kraneinbau für ihren E-Rolli selbst zu zahlen weil die bürokratischen Hürden dafür quasi unüberwindbar sind schon wieder anders aus. Wir haben einfach viel Glück in der Hinsicht.

Habt ihr die Pflege eurer Tochter schon für die Zukunft geplant? Also wer sie pflegt, wenn ihr es nicht mehr könnt?

Wir haben Menschen bestimmt, die für unsere Kinder sorgen werden sollten wir jetzt ausfallen. Für die Zukunft haben wir uns prinzipiell schon verschiedene Modelle angeschaut wie sie als Erwachsene leben könnte, aber es ist schwierig vorauszusagen was sie dann in 10/15 Jahren brauchen wird. Ich wünsche mir für sie ein möglichst selbstbestimmtes Leben führen zu können und wir werden sie in ihren Bedürfnissen und Wünschen in jedem Fall unterstützen. Bis dahin versuchen wir ein möglichst festes Netz aus Menschen um sie herum zu weben die sie im Fall eines Ausfalles von unserer Seite auffangen und unterstützen.

Was braucht ihr/ wünscht ihr euch von Politik und/oder Gesundheitswesen?

Ich wünsche mir von der Politik, dass sie aus Inklusion genau das wird, was es sein soll – ein Menschenrecht! Ich will nicht mehr um jede Kleinigkeit kämpfen denn das geht schon da los, dass mein Kind mit ihren Freunden auf eine Schule gehen kann. Es werden noch immer Schulen gebaut, die nicht barrierefrei sind, die keine Pflegeräume haben etc. und Lehrende werden immer noch nicht prinzipiell in Inklusion weitergebildet. Ich wünsche mir, dass endlich diese Gleichstellung passiert und es einen echten Nachteilsausgleich gibt der auch entsprechend angewandt wird damit wir zu einer wirklich inklusiven Gesellschaft werden! Ich wünsche mir, dass wir uns nicht mehr für jeden Scheiß rechtfertigen müssen und, dass wir nicht mehr um alles kämpfen müssen. Wir müssen endlich bekommen, was uns zusteht! Der Nachteilsausgleich ist für etwas für das wir nichts können – kein Mensch mit Behinderung hat sich das ausgesucht, aber es muss ein Ausgleich stattfinden, dass es ihnen genauso gut geht, wie jedem anderen Menschen auch und es auch die entsprechende Chancengleichheit gibt. Ein geistig normal entwickeltes Kind, dass über einen Sprachcomputer kommunizieren kann und sich mit E-Rolli fortbewegt muss im Jahr 2022 auch die Möglichkeit haben auf eine normale Schule gehen zu können. Aber genau das ist eben nicht möglich und deswegen muss genau da neu gedacht und gemacht werden. Wir stellen hier, also bei den Kindern, die Weichen für eine neue, inklusive Zukunft. In ihrer inklusiven Kita war meine Tochter nie das Kind mit dem Rollstuhl, sondern das Kind mit dem lauten Lachen und den wilden Locken. Es kann so gut funktionieren, wenn sich die Menschen darauf einlassen, aber wenn behinderte und nicht behinderte den Kontakt zueinander verlieren verliert sich auch dieser Blickwinkel. Durch das Separieren unserer Kinder zerstören wir unsere Chancen auf eine inklusive Zukunft für alle.

Ich wünsche mir von der Politik noch viel mehr offene Augen und offene Ohren für die Bedürfnisse von behinderten Menschen!

Vom Gesundheitswesen wünsche ich mir zum Beispiel weniger Bürokratie von den Krankenkassen und das Umschwenken von „Hilfsmittel sind Luxus“ zu „Hilfsmittel sind eine Selbstverständlichkeit“. Ich möchte nicht mehr bei jedem Antrag hoffen, dass mir der Sachbearbeitende gnädig gestimmt ist und es diesmal kein Kampf wird, sondern meine Tochter einfach bekommt was sie braucht. Genauso wünsche ich mir, dass meine Tochter gesehen und gehört wird- sie ist 10 und kann sich, obwohl sie non- verbal ist, verständlich machen und hat ihren eigenen Willen. Trotzdem wird sie so oft übergangen.

Ich wünsche mir, dass wir pflegende Angehörige uns nicht immer um alle Dinge selbst kümmern müssen. Wir benötigen Unterstützung und Know- How von außerhalb. Jegliches Wissen über Hilfsmittel etc. muss ich mir selbst aneignen, es gibt niemanden der kommt und sagt was der aktuelle Stand in der Technik oder Forschung ist. Ich warte ewig auf Termine, Diagnostik und Hilfen und werde dann noch für Forderungen quasi ausgelacht. Das muss sich dringend ändern, damit pflegende Angehörige entlastet werden!

Was muss sich für pflegende Angehörige aus eurer Sicht ändern?

Pflegende Angehörige müssen endlich als das wahrgenommen werden was sie sind- ein wirklich wichtiger Teil des Gesundheitssystems! Ich will hier nicht das Wissen und Know- How von gelernten Pflegefachkräften in Frage stellen, aber wir sind ein wichtiger Stützpfeiler. Wenn all die Dinge die wir zu Hause machen (organisieren, pflegen, unterstützen) noch in den Sektor der professionellen Pflege mit rein fällt dann bricht das System komplett zusammen. Diese Care Arbeit, die da geleistet wird muss auch als solche anerkannt werden und vergolten werden. Es ist nicht mit dem Pflegegeld getan- pflegende Angehörige sind 24/7 da, immer für alles verantwortlich, quasi permanent unter Strom. Dafür ist es einfach nicht genug. Dazu muss sich die Wahrnehmung ändern und die Unterstützung, die angeboten wird. Klar ist es mein Kind und klar pflege ich es, aber deswegen muss mir trotzdem der Rücken gestärkt werden und es muss Menschen geben die für mich einstehen! Ich möchte gesehen und gehört werden und in dem Wissen leben, dass es Menschen gibt die auch mich als pflegenden Angehörigen auffangen!

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