Pflegende Angehörige – Narrative und Wahrheiten
Einführung ins Thema
Die Versorgung älterer oder pflegebedürftiger Menschen ist in Deutschland seit vielen Jahrzehnten in “familiären Händen” organisiert – gerne auch als größter Pflegedienst Deutschlands bezeichnet. International unterscheidet man servicebasierte und familienbasierte Caresysteme. Neben der informellen und indirekt bezahlten Pflege, werden zum Bereich Care auch haushaltsnahe Leistungen, Bildung und Betreuung zusammengefasst. Vor 27 Jahren wurde als 5. Säule der Sozialversicherung die Pflegeversicherung eingeführt. Diese stellt ein Teilleistungsrecht dar und ist im SGB 11 beschrieben. (Verfügbar unter: https://www.gesetze-im-internet.de/sgb_11/ abgerufen am 23.08.2022) Ob jemand berechtigt sei um die Leistungen nach dem SGB11 zu beziehen wird durch Medizinischen Dienst (früher Medizinischer Dienst der Krankenkassen,MDK) begutachtet. Kriterien für Pflegebedürfigkeit und Einstufung sind in §14 und §15 des SGB11 beschrieben.
Der deutscher Sprachraum zeichnet sich im Wohltätigkeitsbereich durch Akzent auf Eigenverantwortung und Prinzip der Subsidiarität aus. Auch gesetzlich wird Vorrang der häuslicher Pflege und Hilfsbereitschaft der Angehörigen und Nachbarschaft im §3 des SGB11 festgehalten: https://www.gesetze-im-internet.de/sgb_11/__3.html (abgerufen am 23.08.2022) Subsidiarität ist eine Gratwanderung.
- Kann Carebereich wirklich marktwirtschaftlichen Routinen unterliegen?
- Wie viel Eigenverantwortung ist tatsächlich möglich?
- Wie werden wir in der Zukunft mit nicht-traditionellen Gesellschaftszellen, die von den heteronormativen Familien abweichen umgehen?
- Wie erfolgt der Prozess der gesellschaftlichen Aushandlung der Verantwortung?
Ein Umdenken zur Dichotomie, staatliche Absicherung vs. Eigenverantwortung ist von Nöten. Weitere Akteure gewinnen an Bedeutung und aus der Dichotomie wird ein Kontinuum.
Zahlen, Daten, Fakten
Die meisten Menschen werden hier von ihre Angehörigen zuhause betreut. Die circa 4,7 Mio pflegende Angehörige sind zu 65% Frauen, also die Töchter, Schwiegertöchter, Mütter oder Ehepartnerin. Fehlende professionelle Unterstützung, geringe finanzielle Unterstützung (“Pflegegeld”), je nach Pflegeumfang Verlust des Jobs und der sozialen Kontakte – alle diese Punkte führen zu einer gesundheitlichen Belastung der pflegenden Angehörigen.
Weiter bleibt auch festzuhalten, dass die pflegerische Versorgung von Angehörigen nur unterstützt wird durch professionelle Pflege in Form von Sachleistungen – eine Notwendigkeit der Aus-Fort-& Weiterbildung der Angehörigen besteht nicht. stattdessen ist ein Markt der Schulungen entstanden, der pflegenden Angehörigen suggeriert, nach 24 h (siehe https://johanniter-pflegecoach.de/?gclid=Cj0KCQjwr4eYBhDrARIsANPywCiP7TGEwsVvYH07mtnEicFHgKK8m1dMY9OyIWtzsPgWFTwzca4ekEAaAmPMEALw_wcB) wären sie ausreichend geschult, ihre teils dementen oder anderweitig erkrankten Angehörigen sicher “ und mit viel Liebe” zu pflegen. Der Austausch über die Pflege der Mutter, Tochter oder Oma findet in Facebook-Gruppen statt, in dem es keine professionelle Pflege oder Moderation gibt.
Das Narrativ der aufopfernden (meist) Frau, die neben Kindern natürlich auch noch voller Liebe die Oma mitversorgt, erhält diese Systeme mit aufrecht und fördert die Glorifizierung der bestehenden Zustände. Wirkliche Unterstützung, Hilfe oder ein Umdenken in diesem Teil des Gesundheitswesens bzw. des Public-Health-Systems in Deutschlands ist seitens der Politik nicht zu erwarten. Hier wird eben jene Glorifizierung auch von Politik und Verbänden weitergetragen, während alles dafür getan wird, eine Professionalisierung der Pflege zu verhindern.
Eine starke und professionelle Pflege könnte den Sektor mit wichtigen Bausteinen ergänzen, verbessern und sicherer für pflegende Angehörige und die zu Pflegenden machen.
Geschichte der gesetzliche Pflegeversicherung
Um zu verstehen wie wir hier gekommen sind, wo wir heute sind lohnt sich ein Blick in die Geschichte der gesetzlichen Pflegeversicherung und Traditionen in Deutschland. Revolutionär war in den 1980ern die Anerkennung des Risiko einer Pflegebedürftigkeit unabhängig des physiologischen Alterns. Vor der Finanzierung durch gesetzliche Pflegeversicherung wurde Langzeitpflege durch Eigenleistung oder über Sozialhilfe finanziert. Theoretische Grundlage für Planung brachte das Gutachten des Kuratorim Deutsche Atlershilfe (verfügbar unter: https://kda.de/wp-content/uploads/2018/02/Gutachten.pdf aufgerufen am: 24.08.2022). Es stellte sich die Frage,warum eine medizinische Behandlungsbedürftigkeit solidarisch aus Beiträgen der Krankenversicherung gedeckt wurde, aber Pflegebedürftigkeit nicht. Das Gutachten kritisiert die Trennung. Doch die Krankenkassen und auch politische Vertreter*innen lehnten eine gemeinsame Finanzierung unter dem Dach der Krankenkassen strikt ab. Es wurde auf eine Bedarfsplanung analog zur Krankenhausplanung verzichtet. Die Graduierung der Leistungen und Teilleistungsrecht dienen der Kostenbegrenzung.
Wenn es um Finanzierungsquellen geht,werden Beveridge-Systeme(Finanzierung aus Steuermitteln,alle mit Hauptwohnsitz sind automatisch versichert),Bismarck-Systeme(Finanzierung aus Lohn/Gehalt,versichert sind Arbeitnehmer*innen/Erwerbstätige) und Semashko-Systeme(gesamtes Gesundheitswesen wird staatlich finanziert und reguliert,Zugang für alle ohne Angabe der Versicherung). Pflegeversicherung ist eine Sozialversicherung und entsprechend der Einkommenshöhe durch Beiträge der Erwerbstätigen finanziert.
Und jetzt?
Was hat das mit uns zu tun? Wir alle sind Teil dieses Systems. Wir alle können qua Alter, Erkrankung, Unfälle oder der Verantwortlichkeit z.B. gegenüber Kindern von der pflegerischen Versorgung in diesem Land abhängig werden. Das Thema betrifft uns alle. Egal wie.
Wir haben uns die verschiedenen Settings, die Gesetzeslage und mögliche Lösungsvorschläge angeschaut, haben pflegende Angehörige gefragt und wollen einen anderen Blick schärfen, aus professioneller Sicht auf ein System, was sich selbst überlassen wird.
In den nächsten Tagen wollen wir die folgenden Punkte näher erläutern.