Warum Sichtbarkeit wichtig ist #WirSindUnbequem

Pflegende auf einem Streik. Auf einem Schild rechts unten steht "Wir wollen einfach mal wieder pflegen, statt nur den Dienst zu überleben"

Dieser Post ist in erster Linie in eigener Sache. In dieser Woche ist Einiges passiert. Eine unserer Mitarbeiterinnen hatte wegen ihrer Öffentlichkeitsarbeit großen Ärger. Eine langjährige Freundin berichtete mir, dass sie laut ihrem Arbeitsvertrag – bei einem privaten, nicht-kirchlichen Träger – überhaupt nicht demonstrieren dürfe. Nebenbei verhängte Sachsen als erstes Bundesland einen durchgreifenden Lockdown und verteilte Christstollen ans Pflegepersonal. Kollegen*innen können wegen Quarantäne ihrer schulpflichtigen Kinder nicht arbeiten. Gleichzeitig reißt die Querdenker-Welle nicht ab, die der Gesamtbevölkerung und auch uns mit allen Künsten missverstandener Statistik vorrechnet, dass alles gar nicht so schlimm sei.

Gerne – sehr gerne sogar – könnte man jeden Punkt und jedes Komma, die geschrieben und gesagt wurden, nach allen Niederträchtigkeiten absuchen, analysieren und ein Tantrum von apokalyptischer Lautstärke verfassen. Aber was bringt das? Reden wir mal lieber über Sichtbarkeit

Die unsichtbaren Engel in Weiß

Wie bezeichnend, ja, wie ironisch, dass es sich selbst ein Autor wie Kafka nicht besser hätte ausdenken können: Liliane Juchli, die Gründerin des Modells der Aktivitäten des Täglichen Lebens, verstirbt im „Year of the Nurses and Midwifes“ an einer Covidinfektion. Es klingt wie ein schlechter Witz. So schlecht in der Tat, dass es fast keine Nachrufe gab! Nach intensivem Googeln findet man einen Artikel in einer Aargauer Zeitung – dem Kanton der Schweiz in dem Sr. Liliane lebte. Das war’s. Jetzt weiß der normale Bürger sicher nicht, wer Liliane Juchli ist, aber das trifft auf auch die ungarischen Harfenspieler zu, die in den 1960ern den Literaturnobelpreis bekommen haben (so kommen mir zumindest manche Nachrufe in den Nachrichten vor).

Dieses Wissen hätte sich eigentlich verbreiten können. War es vor dem März 2020 schon falsch, Pflege zu einem Fach zu erklären, dass sich ausschließlich um Alte, Kranke, Gebrechliche, kümmert, so hätte doch spätestens nach dem Schock der ersten Welle klar sein müssen: Es kann jeden treffen. Und dann könnte mein Wohlergehen, ja mein Leben, davon abhängen, dass die Pflegeperson an meiner Seite weiß, was sie tut.

Was tun wir eigentlich

Ich kann ein Bett machen, ohne dass der Mensch, der darin liegt, es dazu verlassen muss. Ich kann einen Verband neu machen ohne dabei die Wunde oder die Patientin zu berühren. Ja, sogar den Trick mit der Pinzette und der Klammer an der PEG, die immer klemmt bekomme ich hin. Aber bitte lasst mich kein Ikea Regal aufbauen.

Bei den traditionellen Berufen weiß Otto Müller aus der Blumenstraße was Sache ist. „Der Bäcker bäckt die Breze, der Fleischer würgt die Kuh, der Arzt entfernt die Krätze, mein Kind und was machst Du?“ sang die EAV auf ihrem Album „Nie wieder Kunst“. Ja, was machen wir denn eigentlich? Fernsehen an: Bei in aller Freundschaft und mit kleinen Ärzten wird graue Anatomie betrieben und Pflege kommt entweder gar nicht vor, oder es beschränkt sich aufs Zuhören des Dramas der Woche und im Notfall den Alarmknopf drücken. Und Bettpfannen. Viele, viele Bettpfannen!

Otto Müller weiß, welche sieben Sachen er braucht um einen Kuchen zu backen, aber von den 12 ATLs (= Aktivitäten des täglichen Lebens) hat er noch nie gehört. Selbstpflegedefizit? Pflegegrad? Das wird alles frühestens aktuell, wenn es ihn selbst oder eine*n Angehörige*n betrifft. Bis dahin ist der Antrag von der Krankenkasse ja auch viel zu kompliziert. Mit meiner Fachdisziplin – Unfallchirurgie / Orthopädie – lässt sich vielleicht noch am ehesten oberflächlich erklären, was Pflege ist: Denken Sie mal daran, was Sie alles jeden Tag wie selbstverständlich und ohne darüber nachzudenken tun. Und jetzt stellen Sie sich vor, ihre rechte Hand (bei Linkshändern die linke) ist gebrochen. Jetzt der ganze Arm. Jetzt ein Arm und ein Bein, ein Arm und beide Beine. Die Liste wird länger und länger und länger. Von der Morgentoilette über das Anziehen, dem Verzehren von Mahlzeiten und dem Entsorgen derselbigen wird die Sache nun plötzlich spannend.

Das waren nur 4 ATLs. Es gibt zwölf. Und über Prophylaxen in einem Krankenhaus oder Seniorenheimsetting haben wir noch gar nicht geredet. Denn dann müssten wir über die Person reden, die am Rücken operiert wurde und nur unter Schmerzen minimals gelagert werden kann während die bereits vor OP septische Wunde schön vor sich hin sezerniert und den Hautzustand weiter verschlechtert. Diese Person liegt vielleicht im Nebenzimmer desjenigen, der sich bei der Stationsleitung beschwert, warum er nachmittags so lange auf den Kaffee warten muss und warum die hier alle immer so wenig Zeit haben.

Dann müssten wir vielleicht auch noch über die Person sprechen, die unverschuldet und völlig gesund in einen Autounfall verwickelt wurde und nun beatmet auf der Intensivstation liegt, bis sich der Zustand nachhaltig bessert. Schon lange vorher sind wir an einem Punkt, an dem Otto Müller – ohne ihn dafür zu verurteilen – die Sache nicht mehr selbst aus Nächstenliebe machen sollte, sondern sich vertrauensvoll an Menschen wenden sollte, die dies beruflich machen, weil sie es können und wollen.

Tacheles

Unsere Sichtbarkeit, das Image der Pflegeberufe in der Öffentlichkeit, ist zum Kotzen. Kein Mensch weiß, was wir tun, warum wir notwendig sind – übrigens ein Problem, das wir uns mit den Physiotherapeuten*innen und Ergotherapeut*innen teilen – für viele sind wir entweder Schwester Stefanie oder die Person, die einfache Arzthelfer- oder Butler-Tätigkeiten ausführt bis sich die Genesung mit der Zeit von selbst einstellt.

DARUM brauchen wir Leute, die in die Öffentlichkeit gehen und im Fernsehen Dinge sagen wie „Man kann nicht „ein wenig“ Beatmen, entweder man macht es ordentlich oder man ist bereits im Sterbeprozess“ in einer Art, die der Zuschauer verstehen kann. DARUM braucht es nicht noch mehr Politiker, die in der Öffentlichkeit über uns reden sondern Pflegekräfte die im selben Atemzug die Missstände anprangern und gleichzeitig die Vielfalt und das Potenzial unseres Berufs bewerben. DARUM brauchen wir endlich eine Berufsständische Vertretung (holy f**k, ist das Thema Pflegekammer verbrannt!) und DARUM brauchen wir Pflegende, die auf die Straße gehen und sagen „Dies und dies fordern wir“

Und damit haben wir den Bogen zum ersten Absatz geschlagen: Egal was Arbeitsverträge versuchen zu verbieten: Demonstrieren ist ein Grundrecht. Egal ob ich für den Wald, gegen den Klimawandel oder für bessere Pflegepolitik demonstrieren will, weil es ja offensichtlich sonst niemand tut, es ist ein mir vom Grundgesetz der Bundesrepublik zugesichertes Recht! Und ja natürlich weiß ich, wenn ich schlecht über meinen Arbeitgeber rede, hat die Konsequenzen und ja, das wäre dann wirklich eigene Schuld.

Es braucht sowohl Leute, die für den Beruf werben, ihn erklären als auch Leute, die sagen „Nein, bis hierher und nicht weiter! Ich bestehe auf geltendes (Arbeits-) Recht! Ich lasse mich nicht ausbeuten und nicht emotional erpressen.“

Und an euch liebe Arbeitgeber*innen, die automatisch Muffensaußen bekommen, wenn ein*e Angestelle*r in der Öffentlichkeit in welcher Weise auch immer den Mund aufmacht und sei es nur um fachliche Auskunft oder konstruktive , vielleicht harte, Kritik abzugeben: Ihr könnt sie nicht alle abblocken, denn Ihr braucht uns! Wir Pflegekräfte wachsen nicht auf Bäumen.

Wir sind keine Drohnen
Wir sind keine Duckmäuschen
Wir leisten gute und professionelle Arbeit
Wir verlangen faire Arbeitsbedingungen
Wir verlangen Sichtbarkeit
Wir sind Unbequem!

Titelfoto: „Privat“ mit freundlicher Genehmigung der Fotografin. Unkenntlichmachung der Abgebildeten durch uns. Alle Rechte vorbehalten!


Presseschau

www.jetzt.de/gesundheit/wir-sind-unbequem-pfleger-innen-berichten-ueber-lage-waehrend-coronakrise

www.faz.net/aktuell/gesellschaft/gesundheit/coronavirus/wirsindunbequem-auf-twitter-ueber-den-pflegenotstand-17093296.html

www.derhauptstadtbrief.de/unbequem/

Wir danken für die Berichterstattung und Unterstützung!

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