Buchrezension: „Frau Doktor, wo ich sie gerade treffe…“ Dr. Ulrike Koock
„Irgendwann komme ich hier raus und dann schreib ich ein Buch über alles was ich hier erlebt habe!“ ist ein Satz, den man in Stationsräumen im Krankenhaus öfter hört. Dieser Satz ist universell. Pflegende, Ärzte*innen und andere Heilberufe verwenden diesen Satz gerne als Ersatzausdruck für „Das glaubt uns hier alles kein Mensch!“ Und möglicherweise ist dies der Grund, warum diese Bücher und Buchbände (es gäbe so viel zu erzählen) bislang noch nicht zu tausenden die Handelsregale überfluten, da wohl vieles von den Merkwürdigkeiten eines normalen Arbeitstages von einem fähigen Lektorat mit den Worten „Wollen Sie mich für dumm verkaufen“ und einer Watschen abgeschmettert würde.
Umso erfreulicher, wenn dann doch einmal ein Werk erscheint, dass nicht belehrt, nicht mit dem Finger wedelt, und würdevoll, breit aufgestellt und unterhaltsam vom Alltag in einem medizinischen Beruf erzählt.
Die Schwester, die Frau, die Doktorin
Disclamer: Wir mögen Schwesterfraudoktor, wir mögen sie sehr! Wir haben sie bereits auf diesen Seiten mit Tweets und ganzen Artikeln verlinkt, Filtern Sie also bitte meine Worte, wenn Sie nun weiterlesen.
Im schönen Bundesland Hessen lebt eine freundliche Ääzdin mit einer Stimme aus dunklem Samt, die irgendwann sehr unsicher das Bloggen begann. Einen „Goldenen Blogger Award“, eine Elternzeit und 1 Jahr Coronapandemie später halten wir nun seit dem 01.03. ihr erstes Buch in der Hand „Frau Doktor, wo ich sie gerade sehe“.
Sprechende Medizin zum Lesen
Das Buch ist gegliedert wie eine Arbeitswoche in der Landarztpraxis. Kapitel für Kapitel kommen neue Patienten*innen mit ihren kleinen, großen, akuten, chronischen, neu aufgetretenen, manchmal peinlichen und manchmal auch nur ausgedachten Beschwerden ins Zimmer und Ulrike nimmt uns mit durch den Tag. Leser*innen ihres Blogs werden das ein oder andere Kapitel bereits so oder ähnlich kennen. Natürlich alles zum Schutze der Patienten*innen ordentlich verfremdet, sodass Archetypen übrig bleiben, die mit ihren kurzen Aufenthalt in der Landarztpraxis minutenlange Geschichten erzeugen, die fachlich interessant, nachdenklich oder einfach nur schön sein können.
Immer wieder rutscht Dr. Koock dabei auch in vergangene Zeiten ab, es kommen Einschübe aus Notaufnahmen, dem Stationsalltag in der Facharztweiterbildung, und dabei kommen auch Gedanken über und zu anderen Fachdisziplinen zur Sprache. Diese Gedanken sind empathisch und respektvoll. Was (leider) etwas Besonderes ist, denn unter dem Deckmantel der „Interdisziplinarität“ gibt es noch viel Arbeit, angefangen bei normalem, respektvollem Miteinander.
Respektvoll Miteinander ist auch die beschriebene Beziehung zu den erkrankten Menschen. Immer und immer wieder weißt die Autorin daraufhin, welch wichtiges Instrument in der Allgemeinmedizin die „Sprechende Medizin“ ist. Wenn man der jungen Dame mit dem unguten Gefühl nach einem nächtlichen Techtelmechtel aus der Nase ziehen muss, warum sie vorstellig wird. Wenn man der älteren Dame, die immer wieder wegen Gebrechen des Alters vorstellig wird, eine Pflegestufe anrät und gleichzeitig Verständnis dafür hat, dass sie dies nicht möchte. Oder wenn man – vom eigenen Bedürfnissen wie Hunger und Durst gequält – die Stammpatientin auch mal gerade raus fragt ob man eben was essen dürfe.
Dies ist übrigens mein Lieblingskapitel! Während Ulrike Koock nach Stunden ohne Nahrung und Trinken genüsslich das Käsebrot verzehrt und beiläufig die lockere Dame nach ihrem Stuhlgang befragt. Da möge der nicht involvierte Laie die Nase rümpfen, aber genauso ist es und die Darstellung ist perfekt! Abschätzig wird oft von pflegenden Berufen vom „Alten Leuten den Arsch auswischen“ geredet, aber hier zeigt sich: Es geht um ein Problem, möglicherweise ein ernstes, also ist es auch möglich seinen persönlichen Ekel in die professionelle Hülle zu verpacken und mit Verstand und Wissen helfen zu können. Während man seine Brotzeit macht. Ich werde über dieses Käsebrot nicht fertig, ich sehe sie förmlich vor meinem inneren Auge und musste mehrmals laut lachen.
Zum Ende der Woche wird es auch Ernst. Auch das Thema Sterben gehört zu unseren Berufen. An dieser Stelle wird nicht gespoilert. Wie wir es aber auch den 200 Seiten zuvor schon erfahren haben: Wir werden klaren Worten und sanfter Hand bis zu diesem schweren Thema geleitet.
So vielfältig wie der Alltag
Und so zieht sich die Woche fort. Wir treffen Menschen, die wir uns vorstellen können, mit Problemen, die wir nachvollziehen können und so wie Dr. Koock von der Routine in nachdenkliche in besorgniserregende in resignierende und wieder zurück zu locker leichten Fällen arbeitet, so arbeiten wir uns durch dieses Buch und fühlen mit allen Figuren mit.
Das Buch ist kein reines Sachbuch, es vermischt Fachlichkeit und Geschichtenerzählen miteinander. Es übt hier und da Kritik am Gesundheitssystem, ich erkenne einen leichten Ansatz zu der Situation „Alleinerziehend und Arbeitend“, der aber nie wirklich groß ausformuliert wird. Es ist eben wie das Leben. Die Gedanken, die einem während einer Arbeitswoche kommen, die vielleicht mehr Platz verdient hätten, aber dann wäre es nicht das Werk, das es ist.
„Frau Doktor wo ich sie gerade treffe“ ist ein empfehlenswertes Buch, es ist ein Panoptikum durch die Vielfalt medizinischer Berufe, immer nah am Menschen und auch wenn die Emotionen mit den Patienten hin und her gehen, der Leser bleibt in einer angenehmen Komfortzone zwischen lauten und leisen Momenten. Das Buch droht nicht mit dem Zeigefinger aber spricht hier und da eine deutliche Sprache ohne zu verletzen. Es macht sich nicht lustig sondern jongliert mit der Individualität jedes Menschen und jedes Falles. Es verzweifelt nicht, denkt aber laut und zeigt gleichsam die Schönheit und die Vielfalt des Berufs am Menschen.
Wir geben 4.5/5 Mon Cheries!
Knaur-Verlag, 256 Seiten
erhältlich als Paperback (ISBN 978-3-426-79091-5) und E-Book